Gebäudetyp E - Die Lösung der Wohnungsnot?
Deutschland braucht dringend mehr Wohnraum. Dieses Ziel wird derzeit nicht erreicht. Von den 400.000 Wohnungen, die die Bundesregierung jährlich bauen will, ist man weit entfernt. Als ursächlich für dieses Problem hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ)
u. a. die allgemein anerkannten Regeln der Technik ausgemacht. Daher hat das BMJ nunmehr einen Gesetzesentwurf vorgelegt, nach dem „einfaches und experimentelles Bauen“ leichter werden soll. Um dies zu ermöglichen, wird der „Gebäudetyp E“ in das BGB, also das private Baurecht eingeführt. Nach der jetzigen Rechtslage schuldet der Bauleistende eine Werkleistung, die den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht. Sind die allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht eingehalten, so wird vermutet, dass seine Bauleistung mangelhaft ist. Dies gilt auch dann, wenn es sich um bloße Ausstattungs- und Komfortstandards handelt, die ebenfalls in allgemein anerkannten Regeln der Technik Niederschlag finden.
Der Gesetzesentwurf setzt an dieser Stelle an. Danach soll zukünftig im BGB eine Vermutungsregelung Eingang finden, wonach bloße Ausstattungs- und Komfortstandards keine anerkannten Regeln der Technik darstellen, wohingegen sicherheitsrelevante technische Normen zu den allgemein anerkannten Regeln der Technik gehören. Wer sich zukünftig über die Anzahl der Steckdosen im Wohnzimmer beklagt, wird damit also kein Gehör mehr finden. Wer hingegen fehlenden Brandschutz rügt, wird auch zukünftig gehört.
Um dies in der Baupraxis umzusetzen, wird die Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik erleichtert. So soll es zukünftig ausreichen, wenn der Auftragnehmer dem fachkundigen Auftraggeber die Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik anzeigt, dieser nicht unverzüglich widersprochen hat und die dauerhafte Sicherheit und Eignung des Gebäudes gewährleistet ist. Der bisher darüber hinaus erforderlichen Aufklärung über die Konsequenzen der Abweichung bedarf es nicht mehr. Der Verbraucher, der die Bauleistung, beispielsweise als Erwerber einer Eigentumswohnung nutzt, kann Mängel infolge Verstoßes gegen die anerkannten Regeln der Technik letztlich mit Erfolg nur noch bei sicherheitsrelevanten technischen Normen rügen, nicht mehr, soweit es reine Ausstattungs- und Komfortstandards betrifft.
Der Gesetzesentwurf soll die Rahmenbedingungen für den Neubau von Wohnungen verbessern. Will man dieses Ziel erreichen, so muss man, soweit dies dem Gesetzgeber möglich ist, die Baukosten eindämmen.
Dass in Deutschland die Baukosten sehr hoch sind, liegt sicherlich auch an einem kaum noch überschaubaren Regelwerk, bezeichnet als allgemein anerkannte Regeln der Technik. Die hohen Baukosten liegen allerdings auch an den Vorgaben des öffentlich-rechtlichen Baurechts, welche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Baukosten immer mehr in die Höhe geschraubt haben.
Nur beispielhaft sei auf die energetischen Vorgaben verwiesen. Hier hätte der Gesetzgeber seine Ziele erreichen können, indem er einfach die von ihm selbst geschaffenen öffentlich-rechtlichen Regelungen geändert hätte. Genau daran, nämlich dem wesentlichen Einfallstor hoher Baukosten will der Entwurf des BMJ jedoch nichts ändern, obschon genau dies die Baukosten kurzfristig verringert hätte. Eine Lösung des Problems erhofft sich das BMJ durch eine Relativierung der allgemein anerkannten Regeln der Technik, indem er in das Vertragsverhältnis zwischen den Bauleistenden und in das Vertragsverhältnis zwischen Bauleistenden und Verbraucher durch gesetzliche Änderungen eingreift. Selbst wenn dies zu einer Verringerung der Baukosten führen würde, wäre dies ein äußerst langwieriger Prozess, der niemals geeignet sein kann, das vom BMJ ins Visier genommene Ziel in einem überschaubaren Zeitraum zu lösen.
b)
Die Abweichung von den allgemein anerkannten Regeln der Technik geschieht zunächst beim Bau selbst, also im Vertragsverhältnis zwischen den Bauleistenden. Insoweit sieht der Gesetzesentwurf lediglich vor, dass der Abweichende den Auftraggeber nicht mehr über die Konsequenzen der Abweichung aufklären muss. Nach wie vor muss der Auftragnehmer jedoch die Abweichung anzeigen, der Auftraggeber darf nicht unverzüglich widersprechen und es muss bei Abweichung gleichwohl die dauerhafte Sicherheit und Eignung des Gebäudes gewährleisten. Damit enthält der Gesetzesentwurf genug Material, um jahrelang Gerichte zu beschäftigen. Zukünftige Rechtsstreitigkeiten werden sich daher darum drehen, ob der Abweichende tatsächlich die Abweichung angezeigt hat und wie er dies getan hat, ob und wann der Auftraggeber widersprochen hat und, Letzteres zu klären durch Sachverständige. ob die einzelne Abweichung nicht vielleicht doch in der einen oder anderen Form Relevanz für die Sicherheit und Eignung des Gebäudes hat. Eine erleichterte Abweichung von den allgemein anerkannten Regeln der Technik stellt dies nicht dar.
c)
Haben die Bauleistungen nach dieser Regelung tatsächlich eine wirksame Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik vereinbart und umgesetzt, so soll der Verbraucher, beispielsweise der Erwerber einer Eigentumswohnung, sich nur dann auf die Verletzung der allgemein anerkannten Regeln der Technik mit Erfolg beziehen können, wenn es sich nicht lediglich um Ausstattungs- und Komfortstandards handelt. Hier tut sich die nächste Quelle für Rechtsstreitigkeiten auf.
Abgesehen davon, dass es nicht immer einfach ist, zwischen Sicherheit einerseits und Ausstattung andererseits zu unterscheiden, da beides oft miteinander verwoben ist, werden in jedem Generalübernehmervertrag oder Bauträgervertrag natürlich Ausstattungs- und Komfortstandards zum Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung gemacht, so dass sich jeder Bauträger und Generalübernehmer davor hüten wird, dass seitens der für ihn tätigen Bauleistenden Abweichungen von den allgemein anerkannten Regeln der Technik erfolgen.
Spätestens die vertraglich begründete und berechtigte Erwartungshaltung des Erwerbers führt also dazu, dass es bei der Erbringung der Bauleistung keine Vereinbarung über eine Abweichung von den allgemein anerkannten Regeln der Technik geben wird.
Der Gesetzesentwurf ist nicht geeignet, das damit verfolgte Ziel zu erreichen. Anstatt das Problem, nämlich den zu hohen Preis des Bauens in Deutschland an der Wurzel zu packen und kostentreibende Baunormen, die der Gesetzgeber selbst geschaffen hat, zumindest vorübergehend auszusetzen, wird die Lösung des Problems in den zivilrechtlichen Bereich verlagert.
Eine Lösung wird damit nicht verbunden sein.
RA Raber, 10.10.2024